Lohntransparenz ist weiterhin Tabu?

In Stellenausschreibungen war die Frage nach dem Lohn meist ausgeklammert, Bewerber mussten sie mühsam im Gespräch platzieren oder blieben bis zur Vertragsunterschrift im Ungewissen. Doch diese Zurückhaltung gerät zunehmend unter Druck. Fachkräfte erwarten heute mehr Transparenz, Unternehmen stehen im Wettbewerb um Talente und neue gesetzliche Entwicklungen in Europa verändern den Markt nachhaltig. Offene Gehaltsangaben entwickeln sich vom optionalen Extra zum zentralen Vertrauensfaktor.
Warum Gehaltstransparenz für Fachkräfte so wichtig ist
Für wechselwillige Fachkräfte ist ein klar kommuniziertes Gehaltsspektrum ein Zeichen von Respekt und Wertschätzung. Niemand möchte Zeit und Energie in einen Bewerbungsprozess investieren, um am Ende zu erfahren, dass die Vorstellungen weit auseinanderliegen.
Aktuelle Umfragen in der Schweiz zeigen:
- Rund 70 Prozent der Arbeitnehmer wĂĽnschen sich, dass das Gehalt bereits in der Stellenausschreibung genannt wird.
- Ăśber 50 Prozent geben an, dass sie eine Bewerbung abbrechen, wenn sie keine Informationen zur VergĂĽtung finden.
Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ist der Markt klar kandidatengetrieben. Arbeitgeber, die hier Offenheit zeigen, schaffen eine positive Candidate Experience und differenzieren sich von Konkurrenten.
Europäische Regulierung als Vorbild
Die Europäische Union hat im Jahr 2023 eine Richtlinie zur Lohntransparenz verabschiedet. Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten müssen künftig Gehaltsangaben offenlegen und dürfen Bewerber nicht nach ihrem bisherigen Lohn fragen. Ziel ist es, die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen zu schliessen und gleiche Chancen zu schaffen.
Auch wenn die Schweiz nicht Teil der EU ist, hat die Richtlinie Signalwirkung. Multinationale Konzerne, die in mehreren Ländern tätig sind, setzen transparente Strukturen ohnehin um. Schweizer Fachkräfte sehen dadurch sehr deutlich, dass Gehaltsoffenheit möglich ist und beginnen, diese auch hierzulande einzufordern.
Chancen fĂĽr Unternehmen
Viele Arbeitgeber fürchten, dass Gehaltstransparenz zu Konflikten im Team führt. Tatsächlich bietet Offenheit jedoch zahlreiche Vorteile:
- Stärkeres Employer Branding: Offene Gehaltsangaben vermitteln Fairness und Professionalität.
- Schnellere Prozesse: Bewerber mit falschen Gehaltserwartungen filtern sich frĂĽhzeitig aus.
- Vertrauensaufbau: Kandidaten sehen, dass sie nicht verhandeln mĂĽssen wie auf einem Basar, sondern dass gleiche Leistung gleich vergĂĽtet wird.
- Gleichstellung fördern: Transparente Löhne machen unfaire Unterschiede sichtbar und reduzieren die Gender Pay Gap.
Risiken und Stolpersteine
Natürlich gibt es auch Herausforderungen. Unternehmen müssen sich darauf einstellen, dass Gehaltsspannen mit bestehenden Mitarbeitern verglichen werden. Das kann Diskussionen auslösen, wenn Unterschiede nicht nachvollziehbar sind.
Ein weiterer Punkt: Transparenz zwingt Unternehmen, klare Vergütungsstrukturen zu schaffen. Ad-hoc-Lösungen oder individuelle Sonderabsprachen sind kaum noch haltbar. Für HR bedeutet dies einen Kulturwandel: weg von intransparenten Einzelentscheidungen hin zu objektiven Kriterien wie Erfahrung, Kompetenzen und Marktwert.
Was Kandidaten konkret erwarten
Fachkräfte wünschen sich nicht nur die Angabe eines fixen Gehalts. Sie möchten verstehen:
- Wie die Spanne zustande kommt: Welche Faktoren fĂĽhren dazu, dass ein Bewerber am oberen oder unteren Ende eingestuft wird.
- Welche Benefits enthalten sind: Boni, Aktienprogramme, Weiterbildungsbudgets oder flexible Arbeitszeitmodelle sind Teil der GesamtvergĂĽtung.
- Welche Entwicklungsmöglichkeiten bestehen: Ein Gehalt ist kein statischer Wert. Transparente Gehaltsbänder mit klaren Stufen schaffen Perspektive.
Gerade hier können Recruiter punkten, wenn sie die Hintergründe verständlich erklären und so den Dialog auf Augenhöhe gestalten.
Praxisbeispiele aus der Schweiz
Einige Schweizer Start-ups und IT-Unternehmen veröffentlichen bereits ihre Gehaltsbänder. Sie berichten von positiven Erfahrungen: Bewerber fühlen sich ernst genommen, die Anzahl unpassender Bewerbungen sinkt und die Mitarbeiterbindung steigt.
Spannend ist, dass auch im öffentlichen Sektor erste Schritte erkennbar sind. Einige Kantone legen Gehaltsklassen offen und schaffen so ein hohes Mass an Vergleichbarkeit. Für Fachkräfte ist dies ein klares Signal: Wenn selbst traditionelle Organisationen Transparenz leben, sollten private Unternehmen folgen.
So gelingt die Umsetzung in der Praxis
FĂĽr HR-Abteilungen empfiehlt sich ein schrittweises Vorgehen:
- Interne Analyse starten: Bestehende Gehälter prüfen, Unterschiede aufdecken und Benchmarks mit dem Markt vergleichen.
- Gehaltsbänder definieren: Transparente Spannen pro Position oder Erfahrungsstufe schaffen.
- Kommunikation trainieren: Recruiter mĂĽssen lernen, Gehaltsfragen proaktiv anzusprechen.
- Stellenanzeigen anpassen: Klare Angaben zum Gehalt oder zur Spanne in die Ausschreibungen aufnehmen.
- Feedback sammeln: Erfahrungen von Bewerbern und Mitarbeitern auswerten, um die Transparenzstrategie weiterzuentwickeln.
Fazit: Transparenz ist die neue Währung im Recruiting
Gehaltsoffenheit ist weit mehr als ein Trend. Sie ist Ausdruck einer neuen Kultur der Fairness und des Vertrauens. Fachkräfte wollen wissen, woran sie sind, bevor sie sich auf einen Prozess einlassen. Unternehmen, die Transparenz leben, verschaffen sich einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.
Für Recruiter und HR bedeutet das: Wer frühzeitig auf offene Gehaltsangaben setzt, stärkt seine Marke und gewinnt die richtigen Talente. Für Fachkräfte bedeutet es, dass sie sich auf Arbeitgeber verlassen können, die nicht nur von Wertschätzung reden, sondern sie auch konkret zeigen.
Die 4-Tage-Woche mag noch Zukunftsmusik sein. Transparente Gehälter jedoch sind bereits heute Realität – zumindest bei den Arbeitgebern, die verstanden haben, dass Offenheit der Schlüssel zu Vertrauen ist.
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